Tech & Literature 2021 • Rezension von Prof. Dr. Antje von Ungern-Sternberg
Der französische Philosoph Gaspard Kœnig untersucht in seinem 2019 erschienenen Buch „La fin de l’individu. Voyage d’un philosophe au pays de l’intelligence artificielle“, welche Auswirkungen die künstliche Intelligenz auf den Menschen und seinen Platz in der Gesellschaft hat. Wie der Untertitel verspricht, fußt das Werk auf zahlreichen Reisen und Gesprächen mit Personen, die – im Silicon Valley, China oder Israel – an vorderster Front mit der Entwicklung oder Bewertung von KI beschäftigt sind. Als klassischer Liberaler steht Kœnig dem zunehmenden Einsatz Künstlicher Intelligenz kritisch gegenüber, weil diese den freien Willen des Menschen gefährde. Mit den vielen alarmistischen, aber oberflächlichen Schreckensvisionen zeitgenössischer Technikkritiker hat dieses Buch glücklicherweise nichts gemein. Es ist ein tiefgründiges und anregendes Buch – das anregendste, das ich zu diesem Thema gelesen habe.
Drei zentrale Thesen seien näher vorgestellt. Kœnig entfaltet zunächst dar (Kapitel 3 „Le principe de tourniquet“), wie die Idee des freien Willens in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Psychologie, der Ökonomie oder den Neurowissenschaften relativiert wurde und nun zu einem Bild des Menschen führt, der gesteuert (oder durch nudges „gestupst“) werden kann und soll – was sich gerade die Wirtschaft beim Einsatz von KI zunutze macht. Der Mensch, so Kœnig, werde nicht gezwungen, sondern durch weiche Beeinflussung dazu gebracht, sich so zu verhalten, wie es dem großen utilitaristischen Ganzen diene.
Im Anschluss tritt Kœnig in die Fußstapfen von Alexis de Tocqueville, der im 19. Jahrhundert die Auswirkungen der Demokratie in den USA auf die unterschiedlichen Institutionen der Gesellschaft beschrieben hat. Kœnig unternimmt diesen Versuch nun mit Blick auf die Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz (Kapitel 4 „Effets divers“) und sagt oder befürchtet voraus, was der Verlust des freien Willens konkret bedeute: Eine Kunst ohne Künstler und ohne schöpferisches Tun. Eine Wissenschaft ohne Kausalität – denn wenn die KI Korrelationen ermittelt, braucht es keine Theorie mehr. Eine Wirtschaft ohne Markt, weil der Algorithmus die Ressourcen optimal verteilt. Ein Recht ohne Verantwortliche, da die Automatisierung der Rechtsdurchsetzung keinen Respekt vor dem Recht mehr erfordert. Eine Gesellschaft ohne Vorurteile und Traditionen, die nämlich durch Algorithmen neutralisiert werden. Rechte ohne Demokratie, deren schwerfällige Institutionen und Verfahren das Silicon Valley verachtet. Und schließlich eine Philosophie ohne Subjekt und eine Theologie ohne Gott, da beide im Zeitalter der KI überholt sind.
Schließlich vergleicht Kœnig, wie unterschiedlich Weltregionen mit den neuen Entwicklungen und Herausforderungen umgehen (Kapitel 5 „Géopolitique de l’IA“): China unbedingt technikbejahend um jeden Preis der Freiheitbeschränkung (in der Tradition von Konfuzius), Europa freiheitsliebend, aber dadurch selbstmörderisch technikfeindlich (in der Tradition der Stoa) sowie die USA auf einem Mittelweg (in der Tradition des Protestantismus).
Einige Thesen Kœnigs muss man widersprechen. Insbesondere wäre zu fragen, ob seine Abrechnung mit der KI nicht vielmehr dem Utilitarismus gilt, der in der Tat vielen KI-Anwendungen zugrunde liegt. Die Kombination ist aber nicht zwingend, da das Instrument der KI auch diktatorischen Zwecken dienen kann – und aber, so meine Hoffnung, auch dem freien Menschen.