Tech & Literature 2023 • Rezension von Julia Lang
„Was macht den (einzelnen) Menschen aus?“ Die Fragen nach Individualität und Identität stellen sich Philosophen schon seit Jahrtausenden und dennoch könnten sie nicht aktueller sein. Auch in einem digitalen Zeitalter, in dem es immer schwieriger wird, Schein von Realität, Wahrheit von Trug und Personen von Deepfakes zu unterscheiden.
Der Frage nach Identität stellt sich auch Philipp Schönthaler in seinem dystopischen Roman „Der Weg aller Wellen“. Der Protagonist, dessen Name über den gesamten Roman hinweg unbekannt bleibt, arbeitet in einer hochtechnisierten Welt an einem Campus. Von dem Zugang zum Campus über die Kontrolle im Bus bis hin zur eigenen Haustür läuft jede Identifikation über das Scannen von Körperteilen wie die Venenlinien in der Hand. Was in der dortigen Welt als so sicher erscheint, bereitete aber dem Protagonisten eines Morgens Probleme, als ihm der Zugang zum Campus verwehrt bleibt, beginnt seine Misere. Was uns auch heute schon ärgert nämlich, wenn wir keine Ansprechpartner finden oder stundenlang in Hotlines verbringen, beschäftigt auch den Protagonisten, dessen Alltag immer wieder davon geprägt wird, dass er seiner Arbeit nicht nachgehen kann oder seine eigene Haustür aufbrechen muss, weil er niemanden erreicht, der den offensichtlichen Fehler im System behebt. Als das Nachrichtenprogramm schließlich auch verweigert, ihn zu identifizieren, ist der Protagonist auch von seinen wenigen Bekannten abgeschottet. Mit wenig Hoffnung wendet er sich an einen Anwalt (ja, auch Juristen gibt es in der Dystopie noch), der schon von mehr Fällen wie seinem gehört hat. Weiterhelfen und gegen die undurchsichtigen, übermächtigen Systeme ankommen, kann er aber leider auch nicht. Frustriert bricht der Protagonist seine Zelte ab und schließt sich einer Widerstandsgruppe in der Wüste an.
Da stellt sich die Frage: Wie sicher sind denn diese Systeme? Mit Fehlerquoten von unter 0,1 % ist jeder 1.000 betroffen, dem Zugang verwehrt bleibt, obwohl er ein Recht darauf hätte. Schließlich passieren bei der Benutzung von Programmen auch Fehler und nicht nur Angriffe auf ein System stellen ein Risiko dar. Vor allem, wenn sich die Gesellschaft zu 100 % davon abhängig gemacht hat und es keine Möglichkeit gibt, diese bei Ausfall oder Fehlern zu umgehen. Wenn ein Individuum bei einer durch ein Computerprogramm ausgelösten Identitätskrise das Gefühl bekommt, er müsse aus der Gesellschaft aussteigen, dann hat die Infrastruktur versagt. Insofern kann der Leser von dieser Dystopie bereits jetzt Risiken erkennen und diese gegebenenfalls in der Zukunft vermeiden. Natürlich müssen jetzige Infrastrukturen digitalisierungsfreundlicher werden. Die digitalisierte Infrastruktur sollte jedoch in jedem Fall menschenfreundlich bleiben.
Das Werk ist gerade durch das Verschweigen des Namens des Protagonisten und die verwendete Sprache mit Anglizismen künstlerisch gestaltet. Auch wenn es einleuchtet, dass der Protagonist nicht viele zwischenmenschliche Kontakte pflegt und durch die Zugangsverweigerungen immer mehr von der Gesellschaft abgeschottet wird, so tut es der Erzählung nicht gut, dass es kaum zu Dialogen kommt oder der Leser so gut wie nichts über den Protagonisten erfährt. Wer also nach einem erzählerischen Roman sucht, wird eher enttäuscht. Auch die so genannte Widerstandsgruppe hebt sich nicht dadurch ab, dass sie sich anders verhält und es wird auch nicht aufgeklärt, was genau die Gruppe in der Wüste tut. Man hat das Gefühl, dass der Protagonist allein und als Einzelperson völlig in der Masse untergeht, was wohl genau das Gefühl ist, das der Autor kreieren wollte. Ganz ohne aufheiternde Lichtblickmomente stellt das Werk jedoch eine sehr schwere Kost dar, wobei es an einem Spannungsaufbau gänzlich fehlt.
Dennoch musste ich immer wieder Lächeln, wenn ich über gekonnt gestalterische Elemente gestolpert bin. Eine Antwort auf die Frage, was Identität ist oder wie wir uns in der Zukunft digital identifizieren lassen können, liefert der Autor in seinem Buch nicht. Vielmehr regt das Werk zum Nachdenken an, wie man sich selbst identifiziert sehen möchte und was einem in einer solchen Gesellschaft alles fehlen könnte wie beispielsweise zwischenmenschliche Kontakte. In der heutigen Zeit mit Suchmaschinen heißt es wie in der Philosophie seit jeher: Manchmal ist es wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen, statt eine allgemeingültige Antwort zu geben.