Tech & Literature 2020 • Rezension von Carina Mäs
Drehbuchautor und Publizist Oliver Schütte kreiert mit seinem Werk eine Zeitreise durch die Filmkulturgeschichte. Er markiert dabei ihre wichtigsten Meilensteine von den frühen Anfängen des Kinos Ende des 19. Jahrhunderts, die mit sekundenlangen Lichtspielen alltäglicher Szenen als erste Bewegtbildproduktionen Zuschauer in fremde Welten entführten (S. 16-17), über die frühen Anfänge des Fernsehens in den 60er Jahren (S. 28) bis zur Gegenwart der digitalen Filmproduktion und des Streamens. Die Digitalisierung des Filmerbes ist notwendig, weil die früher auf Zelluloid gedrehten Filme in ihrer Haltbarkeit beschränkt sind und bei drohendem Verfall keine historische Aufarbeitung der nationalen Filmkultur mehr ermöglichen (S. 141).
Streamen ist Ausdruck des Zeitgeists. Für die Millenials ist der Besitz von Kulturgütern kein erstrebenswertes Gut mehr. Während früher im Bürgertum der Besitz von Kultur der Darstellung des eigenen Ichs diente, steht heute vielmehr die Nutzung im Mittelpunkt (S. 169-171). Dieser Kulturwandel birgt die Gefahr, dass wir weniger aufmerksam mit unseren kulturellen Werten umgehen und sie nicht mehr als Errungenschaften, sondern als etwas Natürliches, jederzeit Verfügbares betrachten werden (S. 213).
Schütte prognostiziert, dass das 21. Jahrhundert weniger eine Zeit der Sprache, sondern den Beginn einer visuellen Ära einleiten wird (S. 177). Statt der früher im Bürgertum konsumierten Literatur, die zu einem wichtigen Bestandteil der Identität wurde, wird diese in Zukunft immer mehr von Serien übernommen. (S. 175-177). Die Serie gilt derzeit als populärste und einflussreichste Kulturform der Gegenwart (S. 120). Durch ihre mittlerweile Dauer von 20 Stunden ermöglicht sie komplexe Erzählungen mit einem großen Figurenensemble und einer Vielzahl von Handlungssträngen, die sie als „große Romanen“ bezeichnen lassen (S. 119-120).
Schütte sensibilisiert den Leser auch für die Manipulation der Streamingplattformen, die bspw. durch die Änderung des Vorschaubildes entsprechend der auf dem Algorithmus basierenden Erfahrungen versuchen ihre gewünschten Abrufe zu erzielen (während Nutzern, die sich bisher Romantic Comedys angeschaut haben ein kleines Foto von zwei glücklich verliebten Menschen angezeigt wurde, wurden Komödienliebhabern für den gleichen Film der für das Genre bekannte Schauspieler präsentiert) (S. 199). Darüber hinaus warnt er vor den Gefahren einer Filterblase, die durch die vom Algorithmus gesteuerte personalisierte Selektion des Streamingdienstes hervorgerufen werden kann und derer man sich nur durch eine Durcheinanderbringung des Algorithmus entziehen kann (S. 206-207).
Das Buch ist für alle Serienjunkies zu empfehlen, die spannende Hintergrundinformationen zu dem Funktionieren der Algorithmen erfahren möchten und durch die angeteaserten Beschreibungen neuartige bspw. interaktiver Serienformate für sich entdecken möchten (S. 129).
Kernthese:
Schütte entwirft die Zukunftsvision, dass bei vollständiger Durchsetzung des Streamens, die Menschheit Bewohner eines globalen Filmdorfs sein und in sogenannten „Taste communities“, leben wird, die sich durch ihren Geschmack an konsumierten Filmen und Serien und nicht mehr durch ihre Zugehörigkeit zu einer Nation oder ihrer politischen Ausrichtung determinieren (S. 183-184).