Tech & Literature 2023Rezension von Prof. Dr. Peter Reiff

Nach einem – freilich eher dümmlichen – Wahlslogan bei der letzten Bundestagswahl soll in Deutschland gelten: „Digitalisierung first. Bedenken second“. Braucht es also wirklich eine Ethik der Digitalisierung? Sicher ja. Der „kostenlose“ Zugang zu digitalen Plattformen und Diensten führt im Ergebnis dazu, dass die Nutzer nicht Kunden sind, sondern das Produkt (S. 15). Die dramatischen und – jedenfalls von sehr vielen Nutzern – nicht erwarteten Konsequenzen zeigt Wolfgang Huber in seiner kleinen Schrift am Beispiel eines Experiments der Berliner Künstlergruppe Kollektiv Laokoon eindringlich auf (S. 76). Eine Person spendete ihre bei Google angeforderten Daten an diese Gruppe, die auf diese Weise ca. 100.000 Informationen aus fünf Jahren erhielt. Hieraus rekonstruierten sie eine Lebensgeschichte. Da die Daten dafür sprachen, dass es sich um eine Frau Mitte zwanzig handelte, engagierten sie eine Schauspielerin dieses Alters und diese spielte die Lebensgeschichte empathisch und aufwändig nach. Mit dem gefilmten Ergebnis wurde die Spendeperson sodann konfrontiert und war emotional von der Dichte der Annäherung an ihr eigenes Leben überwältigt (www.madetomeasure.online). Hieraus zieht Huber die „ethische Mindestanforderung“, sich keinen Illusionen hinzugeben. Es sei „ein Gebot der Selbstachtung, Anbieter mit transparentem Datenschutz zu bevorzugen, Suchanfragen auf das Notwendige zu beschränken und Informationen über sich selbst nicht leichtfertig preiszugeben“. Er empfiehlt im Anschluss an Hans Jonas und dessen in den 1970er Jahren entwickelte Verantwortungsethik, eine „Heuristik der Furcht“. Außerdem fordert er eine Verschärfung der internationalen Rechtsregeln über den Umgang mit persönlichen Daten. Die DSGVO sei ein wichtiger Schritt, aber wohl nicht ausreichend. Insgesamt konstatiert Huber, dass auf diesem Feld das Recht die (wirtschaftliche) Macht nur schwer bändigen könne (S. 77 f.).

Huber versteht das menschliche Denken als verkörpertes Denken. Intelligenz müsse daher ganzheitlich verstanden werden. Sie sei sicher mehr als nur die kognitiven Fertigkeiten eines Menschen. Er nennt in diesem Zusammenhang kreative Begabungen, soziale Sensibilität, aufmerksames Zuhören und Teamfähigkeit (S. 131). Huber lehnt daher auch den Begriff „künstliche Intelligenz“ ab und spricht stattdessen von „digitaler Intelligenz“ (S. 133). Seine zentralen Thesen im Umgang mit dieser digitalen Intelligenz formuliert Huber im Anschluss an die Studie einer Forschergruppe unter Leitung des in Oxford lehrenden Philosophen Luciano Floridi, die unter den Titel „Künstliche Intelligenz für Menschen“ ein prinzipienorientiertes Konzept vorgelegt hat. Hieraus destilliert er vier grundlegende Prinzipien, nämlich den Respekt vor der Autonomie, die Nichtschädigung, das Wohltun und die Gerechtigkeit. Autonomie erfordert, die menschliche Autonomie zu fördern und die sog. „Autonomie“ digitaler Systeme zukontrollieren. Nichtschädigung verlangt Vorkehrungen zum Schutz der Privatsphäre, insbesondere vollständige Transparenz für jedes Individuum im Hinblick auf die Nutzung seiner Daten. Wohltun umfasst die Förderung des Wohlbefindens der Menschen durch Achtung ihrer Würde und Bewahrung des Planeten. Gerechtigkeit schließlich bedeutet, den wirtschaftlichen Nutzen der Digitalisierung allen Menschen zugutekommen zu lassen sowie soziale Verwerfungen zu vermeiden. Zu diesen vier Prinzipien trete noch das Prinzip der Erklärbarkeit der digitalen Intelligenz. Die vier Prinzipien seien nicht nur Ansprüche der NutzerInnen, sondern verpflichteten auch alle NutzerInnen digitaler Geräte und alle an digitalen Prozessen Beteiligten. (S. 136 – 138).

In seinem Schlusskapitel „Die Zukunft des Homo Sapiens“ setzt sich Huber vehement mit der prominenten Homo Deus These von Yuval Noah Harari auseinander. Dessen „strammen weltanschaulichen Materialismus“ (S. 183) setzt er seine Schlussthese entgegen. Statt eine neue Gattung Homo Deus auszurufen, gelte es vielmehr, die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch neu ins Bewusstsein zu heben. Dies sei die elementare Bedingung für Kooperation und Zusammenleben unter den Menschen (S. 192).

Fazit: Ein lehrreiches und unbedingt lesenswertes Buch. Wer sich für die Digitalisierung, ihre Entwicklung und deren Folgen für die Menschen interessiert und sich darüber äußern möchte, dem sei die Lektüre dieses klar geschriebenen Buches wärmstens empfohlen.