Tech & Literature 2021 • Rezension von Prof. Dr. Benjamin Raue
Für Felix Stalder ist die „enorme Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten“ (S. 10) ein Ausdruck der Kultur der Digitalität. Er nimmt seine Leser mit auf eine kleine Zeitreise, in der er die verschiedenen digitalen, kulturellen Ausdrucksformen auf eine knapp 280 Seiten lange Perlenkette reiht. Der Shitstorm gegen ein vom Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg 2013 vorgelegtes Arbeitspapier zur „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ (S. 10) findet ebenso seinen Platz in dem Werk wie die Studie zur politischen Ökonomie der Monopole von Fritz Machlup (S. 24), das begrenzt produktorientierte Design der Nike Flagship-Stores (S. 63), der Preis von Speicherplatz (1980 kostete die Speicherung von 1 GB Daten mehr als 400.000 $, 30 Jahre später nur noch zehn Cents, S. 172), aber natürlich auch Google (u.a. S. 106, 108, 178, 182, 187, 199, 219), der britische Geheimdienst und die NSA (S. 213, 233), Conchita Wurst (S. 7, 99), Gutenbergs Buchdruck (S. 102), die europäische digitale Bibliothek Europeana (S. 106 f.), Wikipedia (u.a. S. 245, 263), Pirate Bay und kino.to (S. 110 f.), das kommunistische Manifest (S. 132), Star Wars (S. 162), CC-Lizenzen (S. 261, 264), GNU-Lizenzen (u.a. S. 89), Facebook (u.a. S. 216, 220, 231, 240).
Der Autor strukturiert sein assoziatives Feuerwerk in drei große Abschnitte. Er beginnt im ersten Abschnitt mit „Wegen in die die Digitalität“, untersucht im zweiten Abschnitt die „Formen der Digitalität“, weiter untergliedert in Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität, und zeigt im dritten und letzten Abschnitt die „Richtungen des Politischen in der Digitalität“ auf, wobei er insbesondere auf die Postdemokratie und das Konzept der Commons eingeht und das Buch mit einem Unterkapitel „Wider die Alternativlosigkeit“ schließt.
Auch wenn der Autor das Urheberrecht der Digitalität in einer separaten Abhandlung untersucht, streift er das Thema immer wieder. Er nimmt es vor allem als Hindernis wahr, womit der Autor in der digitalen Community bestimmt nicht in der Minderheit ist. Ob das Urheberrecht aber nicht vielleicht doch ein Mittel ist, um im Zeitalter „zentralisierter, internetbasierter Plattformen“ zu verhindern, dass das „typische Macht- und Einkommensgefälle“ (S. 279) zunimmt, von Stalder im Zusammenhang mit der Sharing Economy angesprochen, kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.
Auch wenn man nicht alle Thesen von Stalder teilen muss, ist das Buch eine Freude für den sonst so strukturiert denkenden Juristen, sich von Thema zu Thema, von These zu These treiben und dabei die großen Konflikte des digitalen Zeitalters an sich vorbei ziehen zu lassen. Das Buch endet mit einem großartigen letzten Satz, den man gleichzeitig stehenlassen kann als
Kernthese:
„[Die] Widersprüchlichkeit der Gegenwart öffnet den Raum der Zukunft“.